Der Fall Rot oder die Einnahme von Paris im Sechsjährigen Krieg

„Daß eine so lange Verteidigungslinie, wie die sein muß, die einen bedeutenden Landstrich unmittelbar decken soll, nur einen sehr geringen Grad der Widerstandsfähigkeit haben kann, springt in die Augen. Selbst bei den größten Truppenmassen würde dies der Fall sein, wenn ähnliche Truppenmassen dagegen wirkten. Die Absicht eines Kordons kann also nur sein, gegen einen schwachen Stoß zu schützen, sei es daß die Willenskraft schwach ist, oder die Streitkraft, mit der der Stoß erfolgen kann, klein.“ (Carl von Clausewitz)

Wir sehen hieran schon das grundlegende Elend der Gallier mit ihrer Befestigungslinie: Niemals kann man eine solche so stark machen, daß sie dem Anprall der feindlichen Hauptmacht stand hält. Ist sie aber einmal durchbrochen, so kann der Feind ins Hinterland vorstoßen und die Front von hinten aufrollen. Ganz besonders im Zeitalter des Panzerkampfwagens. So erging es den Galliern schlimm, als 1940 bei Sedan ihre Befestigungslinie durchbrochen wurde. Der Großteil ihrer Truppen saß unbeweglich fest und der Aufbau einer starken Front an der Somme gelang nicht mehr. Denn schon am 5. und 9. Juni traten unsere Heeresgruppen B (Feldmarschall von Bock) und A (Feldmarschall von Rundstedt) zum Angriff an. Und schon am heutigen Tag fiel Paris und das auch noch ohne Kampf. Luftwaffe und Panzerkeile verwandelten den gallischen Rückzug in eine wahre Flucht, bei der sich schon sehr bald Auflösungserscheinungen einstellten. Beim Fall Rot zeichnete sich unser Generaloberst Guderian einmal mehr als großer Panzerführer aus. An der Schweizer Grenze ist er mittlerweile in seinen „Erinnerungen eines Soldaten“ angekommen und nimmt Verbindung mit der Heeresgruppe C unseres Feldmarschalls von Leeb auf: https://archive.org/details/heinz-guderian-erinnerungen-eines-soldaten-1960

„Am 17. 6. hatte Oberst Nehring, mein tüchtiger Chef, den Stab auf der kleinen Terrasse zwischen unserm Quartier und dem Wall der alten Festung versammelt, um mir in herzlichen Worten zum Geburtstag zu gratulieren. Er war in der glücklichen Lage, seine Wünsche durch die Meldung vom Erreichen der Schweizer Grenze durch die XXIX. motorisierte Infanteriedivision zu bekräftigen. Wir waren alle sehr erfreut über diesen Erfolg, und ich setzte mich unverzüglich in Bewegung, um der braven Truppe zu ihrem Ehrentage meine Glückwünsche auszusprechen. Gegen 12 Uhr traf ich in Pontarlier bei General Freiherr von Langermann ein, nachdem ich auf der langen Fahrt den größten Teil der Division auf ihrem Vormarsch überholt hatte, überall von den Männern freudig begrüßt. Auf unsere Meldung vom Erreichen der Schweizer Grenze bei Pontarlier reagierte Hitler durch eine Rückfrage: „Ihre Meldung beruht auf einem Irrtum. Gemeint ist wohl Pontailler-sur-Saone.“ Erst meine Antwort: „Kein Irrtum. Bin selbst in Pontarlier an Schweizer Grenze.“, beruhigte das mißtrauische OKW. Ein kurzer Besuch an der Grenze folgte und eine Aussprache mit einigen der tapferen Spähtrupp-Führer, deren unermüdlicher Tätigkeit wir die besten Feindnachrichten verdankt hatten, darunter mit dem besonders tüchtigen Leutnant von Bünau, der leider später sein Leben für Deutschland geben mußte. Von Pontarlier befahl ich durch Funkspruch das unverzügliche Abdrehen des XXXIX. Armeekorps nach Nordosten, und zwar mit der XXIX. motorisierte Infanteriedivision auf den Pruntruter Zipfel unter Säuberung des Jura von Versprengten, mit der I. Panzerdivision von Besancon über Montbeliard auf Beifort und mit der II. Panzerdivision unter Kreuzen der rückwärtigen Marschstraßen der beiden anderen Divisionen auf Remiremont an der oberen Mosel. Gleichzeitig wurde das XLI. Armeekorps auf Epinal und Charmes abgedreht. Trennungslinie zwischen XXXIX. und XLI. Armeekorps: Straßengabel südwestlich Langres – Chalindrey – Pierrecourt – Membrey – Mailley – Vellefaux – Lure – Plancher (Orte zu XLI.). Ziel der Bewegungen war, die Verbindung mit der aus dem Oberelsaß zu erwartenden VII. Armee des Generals Dollmann herzustellen und die französischen Kräfte in Elsaß-Lothringen von ihren Verbindungen nach Frankreich abzuschneiden. Diese schwierige Schwenkung um 90 Grad wurde mit der erwarteten Genauigkeit ausgeführt, die alle Bewegungen meiner Panzerdivisionen bisher ausgezeichnet hatte. Schwierigkeiten durch die befohlenen Marschkreuzungen entstanden nicht. Ich hatte die Genugtuung, abends in meinem Hauptquartier eine Weisung der Heeresgruppe Leeb vorzufinden, nach welcher meine Panzergruppe dieser Heeresgruppe unterstellt wurde und in Richtung Belfort – Epinal vorgehen solle. Wir konnten melden, daß die befohlene Bewegung bereits in der Ausführung begriffen sei. Sechs Jahre später teilte ich mit Feldmarschall Ritter von Leeb die Zelle im Gefängnis in Nürnberg. Wir kamen an diesem düsteren Ort auf das Jahr 1940 zu sprechen. Feldmarschall Ritter von Leeb hatte sich seinerzeit nicht erklären können, wie die unerwartet schnelle Ausführung seines Befehls, auf Belfort – Epinal vorzugehen, entstanden war. Ich konnte ihm noch nachträglich die gewünschte Aufklärung geben. Einheitliche operative Anschauungen hatten die Panzergruppe den gleichen Entschluß fassen lassen wie die Heeresgruppe. Beim Abendessen in unserem bildschön über dem Tal des Doubs bei Besancon gelegenen Quartier Avanne hatte ich die Freude des Wiedersehens mit meinem zweiten Sohne Kurt, der gerade von seiner Panzeraufklärungsabteilung III zum Führerbegleitbataillon versetzt worden war und die Gelegenheit einer Kurierfahrt benutzte, um mich an diesem Tage zu besuchen. Gegen Mitternacht erreichte mich ein Anruf des Ia der I. Panzerdivision, Major Wende, der meldete, daß die Division soeben Montbeliard erreicht habe und damit das ihr vom XXXIX. Armeekorps gesteckte Ziel. Die Truppe sei aber noch mit ausreichendem Brennstoff versehen, um den Vormarsch fortsetzen zu können. Da er den Kommandierenden General nicht erreichen könne, wende er sich unmittelbar an mich, um die Erlaubnis zur Fortsetzung des Marsches auf Belfort noch während der Nacht zu erbitten. Selbstverständlich erhielt er die gewünschte Erlaubnis, zumal der Halt in Montbeliard keineswegs von mir beabsichtigt, sondern nur dem Umstand zuzuschreiben war, daß das XXXIX. Armeekorps geglaubt hatte, der Division nicht das von mir befohlene Beifort, sondern ein Zwischenziel stecken zu sollen. Im entscheidenden Augenblick befand sich dann das Generalkommando im Stellungswechsel und war daher für die Division nicht erreichbar. Es war die Geschichte von der Fahrkarte bis zur Endstation. Die Überraschung des Gegners wurde vollständig…“

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