Das Panzerjahr geht mal wieder mit dem Jahrestag der Konvention von Tauroggen zu Ende. Mit diesem Seitenwechsel der preußischen Truppen unter Yorck wurde 1812 die Befreiungskriege eingelöst und damit der Sturz Napoleons eingeläutet. Von deren Abschluß besitzen wir, dank unserem Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz, der an deren Abschluß entscheidend beteiligt war, einen Bericht aus erster Hand. Natürlich hat es sich unser Clausewitz nicht nehmen lassen, die Vorgänge vielfach strategisch zu erläutern und so suche ich mir aus seinem berühmten Buch „Der russische Feldzug von 1812“ seine strategische Beurteilung von Napoleons Rußlandfeldzug aus: https://archive.org/details/derfeldzuginrus00unkngoog
„Jetzt sei es dem Verfasser noch erlaubt, seine Meinung über den Operationsplan Bonapartes in diesem viel besprochenen Feldzug zu sagen. Bonaparte wollte den Krieg in Rußland führen und endigen, wie er ihn überall geführt und geendigt hatte. Mit entscheidenden Schlägen anzufangen und die dadurch erhaltenen Vorteile zu neuen entscheidenden Schlägen zu benutzen, so den Gewinn immer wieder auf eine Karte zu setzen, bis die Bank gesprengt war, das war seine Art, und man muß sagen, daß er den ungeheuren Erfolg, welchen er in der Welt gehabt hat, nur dieser Art verdankt; daß dieser Erfolg bei einer anderen kaum denkbar war. In Spanien war es ihm damit nicht gelungen. Der österreichische Feldzug von 1809 hatte Spanien gerettet, weil er ihn verhindert hatte die Engländer aus Portugal zu vertreiben. Seitdem war er dort in einen Verteidigungskrieg verfallen, der ihn ungeheure Kräfte kostete, ihn gewissermaßen an einem Arm lähmte. Sonderbar ist es und vielleicht der größte Fehler, den Bonaparte gemacht hat, daß er nicht im Jahre 1810 nach der Halbinsel gegangen ist, um den Krieg in Portugal zu beendigen, worauf er in Spanien auch nach und nach erloschen sein würde, denn unstreitig trugen der spanische Insurrektions- und der portugiesische Hilfskrieg einander gegenseitig. Immer würde indessen Bonaparte genötigt gewesen sein eine beträchtliche Armee in Spanien zu lassen. Sehr natürlich und auch wohl richtig war es daher, daß bei dem neuen Kriege mit Rußland es sein Augenmerk war, nicht in einen ähnlichen langwierigen und kostspieligen Verteidigungskrieg auf einem noch viel entfernteren Kriegstheater verwickelt zu werden. Er hatte also das dringende Bedürfnis, den Krieg in einem, höchstens zwei Feldzügen zu beendigen. Die feindlichen Streitkräfte schlagen, zertrümmern, die Hauptstadt erobern, die Regierung in den letzten Winkel des Reichs hindrängen und dann in der ersten Bestürzung den Frieden gewinnen war bisher der Operationsplan seiner Kriege. Bei Rußland stand ihm die ungeheure Ausdehnung des Landes und der Nachteil entgegen, daß es zwei weit von einander entfernte Hauptstädte hat. Was ihm dadurch an moralischer Wirkung seiner Waffenerfolge verloren gehen mußte, hoffte er wahrscheinlich durch zwei Dinge ersetzt zu sehen: durch die Schwäche der russischen Regierung und durch den Zwiespalt, den es ihm gelingen konnte, zwischen ihr und den Großen des Reichs zu erwecken. In beiden fand er sich getäuscht, darum war ihm das verlassene und zerstörte Moskau so widerwärtig. Von hier aus hatte er auf Petersburg und ganz Rußland durch die Meinung zu wirken gehofft. Daß Bonaparte unter diesen Umständen wo möglich mit einem Stoß nach Moskau zu kommen suchte, war nur konsequent. Die Wirkungen der gewaltigen Landesausdehnung und eines möglichen Volkskrieges, kurz der Druck des großen Staates mit seiner ganzen Schwere konnte sich erst nach einiger Zeit zeigen, und konnte überwältigend sein, wenn er nicht im ersten, raschen Anlauf überwunden wurde. Wenn Bonaparte auch wirklich darauf rechnen mußte, diesen Krieg erst in zwei Feldzügen zu beendigen, so machte es doch einen großen Unterschied, ob er in dem ersten Feldzuge Moskau eroberte oder nicht. Hatte er diese Hauptstadt genommen, so durfte er hoffen die Vorbereitungen zum ferneren Widerstande zu untergraben, indem er mit der ihm übrig gebliebenen Macht zu imponieren, die Meinung in jedem Betracht irre zu führen, das Gefühl von der Pflicht abwendig zu machen suchte. Blieb Moskau in den Händen der Russen, so bildete sich von da aus für den nächsten Feldzug vielleicht ein so kräftiger Widerstand, daß die notwendigerweise geschwächten Kräfte Bonapartes nicht mehr hinreichten. Kurz, mit der Eroberung Moskaus glaubte er über den Berg zu sein. Dies hat uns die natürlichste Ansicht eines Mannes wie Bonaparte geschienen. Es fragt sich nur, ob ein solcher Plan für Rußland ganz untunlich war, und ob nicht ein anderer vorzuziehen gewesen wäre. Wir sind nun dieser Meinung nicht. Die russische Armee schlagen, zerstreuen, Moskau erobern war ein Ziel, welches in einem Feldzuge füglich erreicht werden konnte; aber wir sind der Meinung, daß diesem Ziel noch eine wesentliche Bedingung fehlt, diese war: auch in Moskau noch furchtbar zu bleiben. Wir glauben, daß Bonaparte dieses Eine nur aus dem übermütigen Leichtsinn vernachlässigt hat, der für ihn charakteristisch war. Er ist mit 90,000 Mann nach Moskau gekommen, – und er hätte mit 200,000 hinkommen sollen. Dies wäre möglich gewesen, wenn er sein Heer mit mehr Schonung und Sorgfalt behandelt hätte. Aber das sind Dinge, die ihm ewig fremd gewesen sind. Er würde vielleicht 30,000 Mann weniger in den Gefechten verloren haben, wenn er nicht überall den Stier bei den Hörnern angegriffen hätte. Mit mehr Vorsorge und besseren Anordnungen in Betreff der Verpflegung, mit einer überlegteren Einrichtung des Marsches, durch welche nicht unnötigerweise so ungeheure Massen auf einer Straße zusammengedrängt worden wären, würde er der von Anfang an herrschenden Hungersnot vorgebeugt und dadurch sein Heer vollständiger erhalten haben. Ob 200,000 Mann, im Herzen des russischen Reiches aufgestellt, die gehörige moralische Wirkung gehabt und den Frieden herbeigeführt haben würden, ist freilich noch eine Frage; aber es scheint uns, daß es wenigstens vor dem Ereignis erlaubt war auf diesen Erfolg zu rechnen. Daß die Russen Moskau verlassen, verbrennen und einen Vertilgungskrieg einleiten würden, war nicht mit Gewißheit vorauszusehen, war vielleicht nicht einmal wahrscheinlich; wenn es aber geschah, so war der ganze Krieg verunglückt, wie man ihn auch geführt hätte. Ferner ist es als eine zweite große Nachlässigkeit Bonapartes anzusehen, so wenig für seinen Rückzug gesorgt zu haben. Wenn Wilna, Minsk, Polozk, Witebsk und Smolensk durch Verschanzungen mit tüchtigen Palisaden befestigt, und jeder dieser Orte mit fünf- bis sechstausend Mann Besatzung versehen wurde, so würde der Rückzug dadurch auf mehr als eine Art erleichtert worden sein; namentlich durch eine bessere Verpflegung. Wir wollen nur an die 700 Stück Ochsen erinnern, welche die Kosaken am 9. November in der Gegend von Smolensk genommen haben. Denkt man sich dabei, daß die französische Armee stärker in Moskau angekommen und also auch wieder stärker von da abmarschiert wäre, so verliert der Rückzug das Ansehn eines tiefen Abgrundes, welches er damals hatte. Welches war nun der andere Plan, den man apres Coup für vernünftiger oder, wie man sich auszudrücken pflegt, für methodischer gehalten hat? Bonaparte sollte am Dnjepr und der Düna Halt machen, allenfalls den Feldzug mit der Eroberung von Smolensk beschließen, sich dann in dem eroberten Teile festsetzen, seine Flügel sichern, dadurch eine bessere Basis gewinnen, die Polen unter die Waffen bringen, dadurch die Offensivkraft vermehren und so in dem nächsten Feldzuge mit besserem Ansatz und verstärktem Atem auf Moskau marschieren. Das klingt ganz gut, wenn man es nicht näher untersucht, und besonders, wenn man nicht daran denkt, es mit den Aussichten zu vergleichen, welche der von Bonaparte befolgte Plan darbot. Nach jener Idee sollte er sich also in dem ersten Feldzuge mit der Eroberung von Riga und Bobruisk beschäftigen (denn das waren die einzigen befestigten Plätze in dem bezeichneten Landstrich) und für den Winter eine Verteidigungslinie von dem Rigaischen Meerbusen längs der Düna bis Witebsk, von da bis Smolensk, dann längs dem Dnjepr etwa bis Rohatschew, dann hinter dem Prczipiec und der Muchawiec bis an den Bug ziehen, was etwa 200 Meilen beträgt. Er hätte also den Feldzug beschlossen, ohne die russische Armee besiegt zu haben, diese wäre gewissermaßen intakt und Moskau sogar unbedroht geblieben. Die russischen Streitkräfte, die bei Eröffnung des Feldzuges noch schwach waren und sich im Laufe desselben beinah verdoppeln sollten, hätten nun Zeit gehabt, sich ganz auszubilden, um dann im Laufe des Winters gegen die ungeheure Verteidigungslinie der Franzosen mit einer Offensive zu beginnen. Das war keine Rolle im Geschmack Bonapartes. Das Schlimmste war, daß ein Sieg, den er unter diesen Umständen erfocht, ganz ohne positive Wirkung blieb, weil er mit der Siegeskraft mitten im Winter oder auch selbst im Spätherbst nichts anzufangen wußte, kein Objekt dafür hatte. Er konnte also nichts tun, als die Streiche der Russen stets abwehren, ohne je einen wieder zu führen. Und denkt man nun gar an die Ausführung! Wie sollte er sein Heer aufstellen? In Quartieren? Das war nur in der Nähe einiger beträchtlichen Städte für mäßige Korps tunlich. In Lagern? Das war im Winter unmöglich. Hätte er seine Kräfte aber bei einzelnen Städten zusammengehalten, so war das Land zwischen ihnen niemals sein, sondern gehörte den Kosaken an. Die Verluste, welche die französische Armee im Laufe eines solchen Winters gemacht hätte, wären wahrscheinlich nicht durch die Bewaffnung der Polen ersetzt worden. Diese Bewaffnung des polnischen Volkes hatte bei Licht besehen auch noch große Schwierigkeiten. Einmal blieben immer die Provinzen, die Österreich besaß, davon ausgeschlossen, ferner diejenigen, welche im Besitz der Russen blieben; dann konnte diese Bewaffnung auch Österreichs wegen gar nicht in dem Sinne geschehen, in welchem die Polen sie wünschten, nämlich zur Wiederherstellung des alten polnischen Reichs; das lähmte den Enthusiasmus sehr. Die Hauptschwierigkeit aber war, daß ein Land, in welchem sich eine ungeheure Masse fremder Streitkräfte niedergelassen hat, gar nicht im Stande ist große Rüstungsanstrengungen zu machen. Die außerordentlichen Anstrengungen, welche die Bürger eines Staates machen können, haben ihre Grenzen; werden sie von der einen Seite in Anspruch genommen, so können sie nicht nach einer anderen hin gemacht werden. Wenn der Bauer genötigt ist mit seinem Vieh den ganzen Tag auf der Landstraße zu liegen, um dem fremden Heere die Bedürfnisse hin- und herzuschaffen, wenn er das Haus voll Soldaten hat, wenn der Edelmann seine Vorräte zum Unterhalt hergeben muß, wenn überall der nächste Augenblick mit den ersten Bedürfnissen drängt und drückt: dann kann nicht erwartet werden, daß freiwillige Opfer an Geld und Geldeswert und freiwillige persönliche Dienste die Mittel zu außerordentlichen Rüstungen geben werden. Dessenungeachtet wollen wir die Möglichkeit zugeben, daß ein solcher Feldzug dennoch seinen Zweck erfüllt und den weiteren Angriff für den folgenden Feldzug vorbereitet hätte. Denken wir uns aber zugleich, was von der andern Seite zu überlegen ist, daß Bonaparte die Russen halb unvorbereitet antraf, eine ungeheure Überlegenheit gegen sie anwenden, ihnen den Sieg mit Gewalt entreißen und seiner Unternehmung die ganze Plötzlichkeit geben konnte, die für das Verblüffen so nötig ist, daß er die ziemliche Gewißheit hatte, in einem Zuge bis Moskau vorzudringen, und die Möglichkeit, im ersten Vierteljahr den Frieden in der Tasche zu haben, – denken wir uns das alles und vergleichen wir diese Aussichten mit dem Erfolge eines sogenannten methodischen Feldzugs, so dürfte es sehr zweifelhaft werden, ob, alles verglichen, der Plan Bonapartes nicht mehr Wahrscheinlichkeit des endlichen Erfolgs für sich gehabt hat als der andere, und in diesem Falle wäre er also auch nach der richtigen Methode und nicht nach der gewagteren, sondern der vorsichtigeren gewesen. In jedem Falle aber begreift man, daß ein Mann wie Bonaparte sich nicht lange bei der Wahl besonnen haben wird. Die Gefahren des Augenblicks beherrschen den Menschen stets am gewaltsamsten und darum erscheint oft als eine Verwegenheit, was in letzter Instanz gerade der einzige Rettungsweg, also die höchste Vorsicht ist. Selten ist der bloße Verstand hinreichend den Menschen bis auf diesen Grad zu stärken, und es ist also meist nur die angeborne Kühnheit des Charakters, welche fähig macht solche Wege der Vorsicht zu gehen. An dieser Kühnheit aber fehlte es dem berühmten Eroberer so wenig, daß er gerade aus Neigung das Kühnste gewählt haben würde, wenn sein Genie es ihm auch nicht als das Weiseste geraten hätte. Wir wiederholen es: Alles, was er war, verdankt er dieser kühnen Entschlossenheit, und seine glänzendsten Kriege würden denselben Tadel erfahren haben, wenn sie nicht gelungen wären…“